28 Jahre waren die Berliner Mauer und der Brocken das Symbol der deutschen Teilung und des Kalten Krieges. Am 9. November 1989 reagierte die DDR-Regierung mit Reiseerleichterungen auf den Ausreisestrom und monatelange Massenproteste – die Mauer war geöffnet.
Nachdem deutschlandweit die Schlagbäume ihre Funktion verloren hatten, gab es Ende November 1989 immer noch wenige Orte, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Dazu zählte der Brocken. Aber auch im Harz begann sich Widerstand gegen die letzte wichtige Festung der DDR zu regen.
Vor allem die Einheimischen begehren auf. Das waren vor allem Heimatverbundene Wanderfreunde, die den Brocken noch aus der Zeit vor der Schließung im August 1961 kannten. Nach 28 Jahren Stillstand wollten sie den Berg aus dem militärischen Dornröschenschlaf holen und für die Öffentlichkeit zurückerobern. Ein in Ilsenburg gebildetes Komitee um Burkhard Jüttner formuliert erste politische Forderungen und trägt sie in die Öffentlichkeit.
Ende November meldet Jüttner beim stellvertretenden Vorsitzenden der Abteilung Inneres des Rates des Kreises Wernigerode schriftlich eine Demonstration in Ilsenburg mit anschließendem Marsch zum Brocken an. Termin: der erste Advent 1989.
Doch es gibt Einwände von offizieller Seite: Militärische Sperrgebiete dürfen nicht betreten werden, das könne nur in Berlin entschieden werden. Dafür sei die Zeit für die Anmeldung zu knapp.
Es kommt keine Einigung zustande. Ohne formelle Genehmigung, dafür aber mit viel Enthusiasmus, lanciert Jüttners „Komitee zur Öffnung des Brockens“ Annoncen in Bad Harzburg und lässt folgende Erklärung in den Kirchen der Region verlesen: „Macht den Brocken frei! Der Brocken ist ein nationales Symbol von hoher kultureller Bedeutung. Die Älteren haben ihn noch bestiegen, die Jüngeren kennen ihn nur von unten, denn seit Jahren wird er dem Volk der DDR vorenthalten. Dafür, dass der Gipfel wieder frei wird, möchten wir mit einem Marsch zum jetzt zugänglichen Teil des Brockens demonstrieren. Macht mit! Treffpunkt: Ilsenburg Markt, Sonntag, den 3.12.1989, 9 Uhr. Marschroute: Ilsetal, Ilsefälle, Namenstein, Eiserner Handweiser, Kreuzung Chaussee-Brockenstrasse.“
Der Zugang endet offiziell allerdings schon lange vor dem Brocken, an den Bahnschienen. Ab dort lassen Grenzsoldaten niemanden mehr durch. Eine missverständliche Meldung im Lokalteil des SED-Zentralorgans „Volksstimme“ sorgt drei Tage vor der geplanten Demonstrationen für weitere Irritationen. Dort heisst es, „dass durch Veränderungen des Grenzgebiets wesentliche Teile des Brockengebiets jetzt zugänglich seien“.
Nicht aber das Plateau selbst. Die Überschrift lautet dagegen: „Brockentour kein Traum mehr“. Zeitgleich befestigt der Schierker Elektromeister Werner Vesterling einen handgemalten Zettel im Schaufenster seines Ladens: „Neues Forum. Demonstration am 3.12.89, Thema Öffnung des Brockens für Jedermann. Treffpunkt Schierker Marktplatz, Kirche, Karl-Marx-Str., Abmarsch 10 Uhr.“ Damit ist die Konfusion nun endgültig perfekt. Auch für die DDR-Oberen.
Durch einen glücklichen Zufall hatte ich damals vom Sternmarsch zum Brocken erfahren. Für mich war klar, dass ich dabei sein wollte. Bei schönstem Wetter fuhr ich früh über den offenen Grenzübergang zwischen Eckertal und Stapelburg. Damals benötige ich noch den Mehrfachberechtigungsschein, mit dem ich 30 Mal im Jahr in die DDR einreisen konnte. Die Visumpflicht wurde offiziell erst zu Weihnachten 1989 aufgehoben.
Von Ilsenburg zog ich gemeinsam mit vielen anderen durch das Ilsetal. Kurz vor Erreichen der Brockenstraße lag Knöchel-hoher Schnee. Von dort aus ging es im Gänsemarsch aufwärts.
Als wir die Brockenstraße erreichten, trauten wir unseren Augen kaum: Dort standen DDR-Grenztruppen mit einer Gulaschkanone und versorgten die Brockenwanderer mit Bockwurst. Von dort aus ging es weiter, auf der linken Seite lag der Wurmberg mit seinem „Nato-Turm“ vor uns. Obwohl wir noch nicht oben angekommen waren, kamen uns zahlreiche Wanderer entgegen. Sie hatten aufgegeben, weil das Brockentor verschlossen war. In Anbetracht der vielen „Nachrücker“ fassten die meisten neuen Mut und kehrten ein weiteres Mal zu Brockentor zurück.
Das Brockentor war ein massives Eisentor, an das auf beiden Seiten die 3,66 Meter hohe Brockenmauer anschloss.
Im Innern des abgegrenzten Areals waren Sicherheitskräfte, die sich in die Gebäude zurück gezogen hatten. Vor dem Tor verhandelte Major Manfred Schulz mit den Wanderern, die an diesem Tag Demonstranten waren. Die Verhandlungen wurden mehrfach unterbrochen, weil Manfred Schulz mit „Berlin“ telefonierte, um sich Instruktionen einzuholen. Am Ende fasste er selbst die längst unumgängliche Entscheidung: Das Tor sollte für Kleingruppen geöffnet werden.
In Anbetracht der nachdrückenden Menschen vor dem Tor erwies sich diese Entscheidung sofort als überholt – alle Demonstranten strömten auf das Brockenplateaux und genossen dort oben einen bis heute unvergesslichen Tag.
In den folgenden Jahren hat sich der Brocken verändert und wurde von vielem Schutt und Müll befreit. Die russischen Streitkräfte hatte dort bis 1994 den wichtigsten Stützpunkt ausserhalb von Russland, bevor sie ihn am 30. März 1994 verließen. Die ehemalige russische Brockeneinheit wurde nach Kaliningrad verlegt und spioniert von dort aus den „Westen aus. Von dort aus ist sie heute in den Angriffskrieg gegen die Ukraine eingebunden.
Auch im Westharz räumten die Geheimdienste aus den USA, Frankreich und England ihre Spionageberge. Ohne Zeitzeugenwissen ist davon kaum noch etwas in der Harzer Landschaft zu finden.
In meinem Brockenbuch „Der Brocken – ein freier Berg“ habe ich die historischen Ereignisse und den Wandel nach dem Mauerfall und der friedlichen Revolution festgehalten.
Auf dem Brocken wird das Gedenken an den 3. Dezember 1989 durch den Harzklub wach gehalten.